Altes Wissen birgt eine Menge Potenzial für unsere Zukunft: Mit traditionellen Techniken entstehen innovative Produkte – oder erstrahlen alltägliche Gegenstände in neuem Glanz: Wir zeigen, welche.
Als Thomas Kilian Bruderer staubbedeckt von Kopf bis Fuß auf den unbefestigten Straßen des kleinen mexikanischen Dorfes Adame steht, fühlt er sich für einen kurzen Moment wie ein Cowboy in einem Westernfilm. Neugierig starren ihn die Menschen aus ihren Fenstern heraus an. In dem abgelegenen Bergdorf mitten im Hochland von Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat Mexikos, sind die Maya-Stämme der Tzotzil- und Tzeltal zu Hause. Kein Tourist verirrt sich sonst hierher.Der in Berlin lebende Designer ist genau hier auf der Suche nach einem besonderen Schatz: dem „Cho’jac“ (ausgesprochen „tscho-chac“), einer Netztasche, die seit Jahrtausenden von der Maya-Tzotzil-Kultur verwendet wird.
Aus dem Cho’jac wird ein Rucksack
Angehörige des Tzotzil-Stammes tragen die Tasche mit einem Lederriemen um die Stirn, um schwere Gewichte wie Mais und Holz zu transportieren. Die Taschen bestehen aus Sisal, einer sehr robusten Faser, die die Maya aus Agavenblättern gewinnen. Sie ernten die Blätter und entfernen das Fruchtfleisch mit der Rückseite einer Machete, bis die weiß-gelbliche Faser heraustritt. Diese waschen und trocknen sie anschließend. Danach spinnen sie sie von Hand auf dem Knie zu einem Faden. Dann wird das Netz mithilfe einer einzigartigen Flechttechnik aufgebaut. Jede Masche haken sie einzeln ein, bis eine robuste Struktur entsteht, die einem Maschendrahtzaun ähnelt. Was den Cho‘jacs unschätzbaren Wert verleiht, ist das Wissen um ihre Herstellung – traditionelle Handwerkskunst, die die Tzotzil von Generation zu Generation mündlich weitergeben. Doch dieses Wissen gerät mehr und mehr in Vergessenheit: Nur noch eine Großfamilie fertigt die Netze an.
Als Thomas den Cho’jac 2010 als Artefakt im Züricher Völkerkundemuseum sieht, erkennt er das Potenzial dieses alten Kunsthandwerks sofort – und beschließt aus den indigenen Netztaschen nachhaltige Rucksäcke zu produzieren. 2016 reist er nach Mexiko und macht die letzten Maya ausfindig, die dieses Handwerk noch beherrschen. Seitdem stellen sie für sein Label „Cho’jac items“ ihre Netze her. Thomas stattet sie mit Lederriemen und Innentaschen aus und verwandelt sie so in moderne Rucksäcke.
Einen Teil der Einnahmen nutzt Thomas, um gemeinsam mit der NGO „impacto“ Kurse für die Maya der Region zu finanzieren. Dabei bringen ihnen Angehörige der Großfamilie das indigene Kunsthandwerk wieder näher, um es vor dem Aussterben zu bewahren.
Traditionelle Teppiche neu erfunden
Auch die Amazigh, eines der ältesten Naturvölker der Erde, wahren bis heute ihre Handwerkskunst. Bis ins 20. Jahrhundert zogen viele Amazigh-Familien als Nomaden durch den Westen Nordafrikas. Um sich vor Kälte und Sandstürmen zu schützen, hingen sie ihre Zeltwände nachts mit selbstgemachten Teppichen aus Schafswolle aus. Viele Amazigh-Frauen fertigen die Teppiche noch heute in wochenlanger Arbeit an, das Handwerk wird von Mutter zu Tochter weitergegeben. Verschiedene Generationen arbeiten an einem Stück gemeinsam. Dafür nutzen sie Wolle ihrer Schafherden, reinigen diese und spinnen sie zu kräftigen Strängen. Die Teppiche werden dann Reihe für Reihe teils am Webstuhl gefertigt, teils handgeknöpft. Jede Weberin bestimmt die Farben und Muster selbst und lässt darin persönliche Erfahrungen einfließen. Das Ergebnis sind Einzelstücke, die schmutzabweisend und langlebig sind.
Den Wert dieser Handwerkskunst haben auch Samira Mahboub and Zaid Charkaoui, beide haben selbst marokkanische Wurzeln, erkannt. Mit ihrem Label „Limala“ erfinden sie die Teppiche der Amazigh neu. Dafür arbeiten sie mit einer Familie aus dem Atlasgebirge Marokkos zusammen und kombinieren traditionelle Muster mit modernen Designs. „Es gibt nichts Schöneres, als ein handgefertigtes Einzelstück in der Wohnung zu haben, das eine eingeknüpfte Geschichte erzählt und altes Kulturerbe in sich trägt“, sagt Samira in einem Interview.
Japanisches Handwerk: Risse mit Gold veredeln
Wie alte Handwerkskunst auch modernen Gegenständen neuen Zauber verleihen kann, zeigt die Künstlerin Satoko Toyoda in ihrem Berliner Atelier. Mit Kingtsugi (deutsch: „goldenes Verbinden“), einem japanischen Handwerk, repariert sie zerbrochene Keramik. Dafür nutzt sie Urushi, ein Naturharz, das aus dem ostasiatischen Urushibaum gewonnen wird. Mit der Paste klebt sie die Scherben zusammen und veredelt die Risse anschließend mit pulverisiertem Gold. Mehrere Wochen sitzt Satoko an einem Stück und erschafft neue, einzigartige Kunstwerke. Diese Variante des Upcyclings soll bereits im 15. Jahrhundert entstanden sein, als einem japanischen Feldherrn eine seiner Lieblingstassen zersprungen war.
Das Handwerk ist Teil von Wabi Sabi, dem japanischen Konzept von Ästhetik. Demnach liegt die Schönheit im Fehlerhaften. Satokos Kingtsugi-Methode basiert auf alten Traditionen, sie hat sie für die Alltagsreparatur aber angepasst. „Restaurieren bedeutet für mich, Teil von einem uralten Objekt zu werden“, sagt sie. „Man kann an etwas Größerem teilhaben, als man jemals selbst erschaffen kann.“
Handwerkskunst für den Alltag
Du willst alte Handwerkskunst nicht nur im Museum anschauen, sondern in dein alltägliches Leben integrieren? Auch diese drei Labels lassen altes Handwerk wieder aufleben:
Label 1 – Leuchten aus Glas
Das Glasblasen ist eine Kunst, die in Tschechien schon seit dem 11. Jahrhundert praktiziert wird. Bis heute formen die Handwerker:innen dort mithilfe eines Blasrohrs, das sie stetig über Feuer drehen, ihre gläsernen Werke. Für ihr Label „ELOA“ verwandelt die Schweizerin Simone Lüling die Glaskorpusse in Steh-, Tisch- Wand- und Hängeleuchten mit individualisierten Kabeln und Fassungen.
Label 2 – Indigene Kunst zum Anziehen
Das australische Label „Kirrikin“ verkauft Kleidung aus handgefertigten Stoffen, die mit Punktmalereien zeitgenössischer indigener australischer Künstler:innen bedruckt sind. Früher haben die Aborigines mit dieser Technik ihre Schöpfungsmythen an Felswände oder in den Sand gemalt. Heute nutzen sie Dot Pens, wie zum Beispiel kleine Holzstäbchen, Wattestäbchen und Pinsel.
Label 3 – Geflochtene Schuhe
Die Huarache-Sandalen sind bei den Einwohner:innen Mexikos seit Jahrhunderten ein beliebtes Schuhwerk. Sie bestehen aus mehreren verflochtenen und gewebten Lederriemen. Gemeinsam mit einem Familienbetrieb in Sahuayo, einer Stadt in Westmexiko, stellt „Cano“ auf Basis des alten Handwerks modische Sommerschuhe her.
Katrin hat in Berlin Publizistik studiert und schreibt seit drei Jahren als Redakteurin im Lifestyle-Bereich. Wenn sie nicht gerade die weite Welt bereist, übt Katrin Kopfstand auf ihrer Yogamatte, oder ist auf der Suche nach den neuesten Innovationen und Health-Trends. Deshalb schreibt sie bei kronendach für die Rubriken Travel, Mindfulness und Zeitgeist. Nach Feierabend findet man sie meistens mit einer Matcha Latte in der Hand durch die Straßen Hamburgs spazieren.