© Canva / kronendach

Psychologie

Wabi Sabi, der japanische Gegenentwurf zum Perfektionismus

© Canva / kronendach

Das Leben ist voller Unvollkommenheiten, augenscheinlicher Fehler, geprägt von andauernder Vergänglichkeit. In der westlichen Welt Tatsachen, denen wir aus dem Weg gehen wollen, dabei verbirgt sich genau darin wahre Schönheit. Mit dieser Perspektive von Schönheit befasst sich die japanische Philosophie Wabi Sabi, die dort seit Jahrhunderten Teil der Kultur ist. Doch auch wir sind in der Lage, Wabi Sabi zu leben. Wir verraten wie.

Wabi Sabi liegt in unserer Natur

In der Natur gleicht nichts dem anderen, jedes Blatt, jede Schneeflocke, jedes Sandkorn ist einzigartig. Perfektionismus hat hier keinen Platz. Warum auch, schließlich ist unberührte Natur schön genug. Was wir oftmals in unserer westlichen Welt vergessen: Wir selbst sind Teil der Natur – auch wenn wir in der Sprache gern zwischen „Natur“ und „Mensch“ differenzieren. Da stellt sich die Frage: Wieso streben wir nach Perfektion, wenn wir von Natur aus nicht das Potenzial dafür besitzen?

Vielleicht, weil wir das Gefühl haben, die westliche Welt verlangt es von uns. Erst wenn wir Perfektion erlangt haben, haben wir es geschafft. Doch fragt dich einmal selbst: Kann nicht auch etwas Unvollkommenes schön sein, Ästhetik besitzen und uns glücklich machen? Denk an einen geliebten Menschen. Oftmals sind es seine Unvollkommenheiten, die ihn authentisch und liebenswert machen. Auch du bist mit deinen „Fehlern“ ein solcher Mensch für jemand anderen.

Was ist Wabi Sabi?

Bei der japanischen Philosophie Wabi Sabi geht es um die Schönheit von Unvollkommenheit, Vergänglichkeit und Einfachheit. Für Wabi Sabi existiert keine genaue Übersetzung; sicher ist, es handelt sich um zwei einzelne Wörter: Das Wort Wabi soll dabei so viel bedeuten, wie elend, einsam, verloren. Er beschreibt die Situation eines einsamen Lebens in der Natur, weit entfernt von der Gesellschaft. Das Wort Sabi soll sich hingegen auf Vergänglichkeit beziehen. Was zunächst negativ klingt, wird in der japanischen Kultur positiv aufgegriffen und findet sich in jeglichen Lebensbereichen wieder.

So kann es bei Wabi Sabi in Bezug auf Vergänglichkeit darum gehen, einen flüchtigen Moment zu honorieren und deren Schönheit wertzuschätzen. Zum Beispiel, wenn die Abendsonne durchs Fenster scheint und Teile des Raumes in ein warmes Orange taucht. Es meint aber auch das Zelebrieren von Unvollkommenheiten, zum Beispiel ein Loch im Lieblingspulli. Denn das Loch steht für die oft getragene Freude am Pullover.

Die Geschichte von Wabi Sabi

Um Wabi Sabi besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf deren Anfänge. Im Mittelalter findet die einst chinesische Tee-Zeremonie erstmals nach Japan. Anders als heute folgt sie damals noch nicht den Ansichten von Wabi Sabi. Es wird teures Porzellan benutzt und die Tee-Zeremonie nur zu Vollmond ausgeführt. Erst mit Teemeister Sen no Rikyū wandelt sich die Zeremonie. Das Porzellan weicht einfachen Geschirr und der Vollmond einem Halbmond von Wolken bedeckt. Einfachheit und Unvollkommenheit sind die neuen Leitbilder der Tee-Zeremonie.

Tee-Geschirr im japanischen Wabi Sabi Stil
© Canva

Tee-Geschirr im japanischen Wabi Sabi Stil.

Wabi Sabi im Alltag: Das Perfekte im Unperfekten erkennen

Wabi Sabi erweist sich als Gegenentwurf zum Perfektionismus, eine Lebensphilosophie, die sich dem Drang nach Vollkommenheit entgegenstellt. Richtet man sich nach Wabi Sabi, kann das zu einem bewussteren und erfüllteren Leben führen. Wie du Wabi Sabi in deinen Alltag integrierst? So geht’s:

Schönheit, eine Frage der Perspektive

In erster Linie ist Wabi Sabi natürlich eine Frage der Einstellung; was Menschen aus der westlichen Welt oftmals nicht so leichtfällt. In Japan sind Unvollkommenheit und Vergänglichkeit weder ein Tabu noch negativ konnotiert. Es ist Teil der Kultur, trifft auf Akzeptanz und offene Arme. Unvollkommenheit und Vergänglichkeit sollen nicht nur angenommen, sondern zelebriert werden. Sprich, ein weiteres graues Haar ist ein Grund zur Freude. Was für uns absurd klingen mag, kann allerdings sinnvoll sein. Wir können natürlich ein Leben lang krampfhaft versuchen, den natürlichen Gesetzen des Alters entgegenzuwirken … oder aber wir nehmen unsere Vergänglichkeit an und genießen sie. Was klingt nach einem glücklicheren Leben?

Dazu kommt, dass Menschen aus der japanischen Kultur in der Vergänglichkeit das Potenzial für Geschichten erkennen. Stellen wir uns vor, als Neugeborenes sind wir ein unbeschriebenes Blattpapier. Jede Falte, jedes graue Haar, jede Narbe ist ein weiteres Kapitel unserer Geschichte. In einer Welt, wo in Sache Schönheit weder Unvollkommenheit noch Vergänglichkeit toleriert wird, stellt diese Einstellung eine wahre Herausforderung dar. Wenn es dir schwerfällt, denk daran: Der Begriff Schönheit lässt Freiraum, trotz gesellschaftlicher Prägung bleibt es eine Frage der persönlichen Wahrnehmung.

Wabi Sabi in der Fotografie festhalten

Die perfekte Pose, das perfekte Lächeln, bei perfekten Lichtverhältnissen. Diese Ambition kann hunderte Fotoversuche und Aufwand bedeuten. Wofür? Für das perfekte Foto, das uns so inszeniert, wie unser Drang nach Perfektion es sich wünscht. Schließlich möchte man eben genau so „perfekt“ sein, wie die Vorbilder auf Social Media. Reicht es am Ende doch nicht, hilft ein Filter. Es ist ein Kampf mit dem Ego, der alles andere als Wabi Sabi gerecht ist.

Würde es nach Wabi Sabi gehen, stände das Festhalten des Augenblicks im Vordergrund. Da kann es schon sein, dass die Augen zu sind, das Gesicht unscharf oder die Haare in alle Richtungen abstehen. Dieses Szenario mit all den Unvollkommenheiten repräsentiert den Augenblick, hält deren Schönheit fest.

Es gibt jede Menge Fotograf:innen, die genau mit solchen „Unvollkommenheiten“ spielen, sie mit ihrem Handwerk in Szene setzen. Eine Blüte, bei der Blätter fehlen; ein umgefallener Baum mit Blick in dessen Innenraum.

Unscharfes Porträt von einer Frau
© Canva

Unscharfe Fotografie als Stilmittel, Wabi Sabi.

Ausgehöhlter Stamm, Baumstamm von innen
© kronendach

Umgefallener Baum mit Blick in dessen Innenraum, Wabi Sabi.

Wabi Sabi, funktionaler Minimalismus in der Einrichtung

Auch in den eigenen vier Wänden spielt Wabi Sabi eine Rolle. Denn Wabi Sabi steht auch für Ästhetik, die einer Einfachheit folgt – ähnlich wie beim Tee-Geschirr. Hier gilt das Leitprinzip: Jedes Element im Raum besitzt eine Funktion, wofür der Gegenstand im Alltag zu Wertschätzen ist. Allein daraus ergibt sich ein minimalistischer Einrichtungsstil. Ein Beispiel dafür: ein geflochtener Bast-Korb, in dem Platz für Wolldecken ist. Alle alltäglichen Gegenstände sollen gewertschätzt werden, weshalb sie auch trotz Fehler in Benutzung bleiben sollen. Der Gedanke orientiert sich an der japanischen Reparaturmethode Kintsugi. Hier werden Brüche sogar mit Gold hervorgehoben.

Minimalistische Einrichtung im Stil von Wabi Sabi
© Canva

Raum im Stil von Wabi Sabi.

Kinsugi Schale mit goldenen Rissen
© Canva

Mit Gold reparierte Schale nach Kintsugi-Prinzip.

Natürliche Schlichtheit steht im Mittelpunkt der Ästhetik, das betrifft sowohl die Farben, Formen, als auch organische Materialien. Pflanzen sind willkommen. Gern auch Vintage-Möbel, denn abgeplatzter Lack, Kratzer und andere Unvollkommenheiten erzählen eine Geschichte, besitzen eine „Persönlichkeit.“

Diese Artikel könnten dich auch interessieren:

Judith Püschner
Autorin Judith Püschner

Judith liebt das Leben mitten in der Metropole Köln. Ihr Gespür für spannende Storys führt sie regelmäßig zu außergewöhnlichen Themen mit aktuellem Zeitgeist. Schon seit ihrer Kindheit folgt sie ihrer Passion, dem Schreiben; seit zwei Jahren nun auch als Redakteurin. Besonders begeistern sie die Themen Psychologie, DIY und Yoga. Bereiche, über die sie als Online-Redakteurin schreibt und die sie gerne ihrer Freizeit ausübt. Ein Gespür für ästhetische Einrichtung besitzt sie bereits seit ihrem Studium im Bereich Design. Seither entdeckt sie immer wieder neue Design-Innovationen und einzigartige Architekturen, über die sie auf kronendach berichtet. 

Weitere Artikel
Frau in Vintage Lederjacke mit Cap.

Mode

Die 7 besten Vintage-Online-Shops für individuelle Looks

Individualität liegt im Trend, vor allem in der Mode. Auf TikTok, ...

Frau lebt glücklich allein und ist Pizza.

Psychologie

Honjok, die koreanische Philosophie, um glücklich allein zu leben

Honjok ist die koreanische Philosophie des Alleinseins. Es steht f...

Mehrere Metamorphose der Drahtfiguren von Matthieu Robert-Ortis, Mann im Schneidersitz wird zur DNA Doppelhelix, Elefant wird zu Giraffen, Schlange und Weltkugel werden zu Eva und Wassermann

Kunst

Die Metamorphose der Drahtskulpturen von Künstler Matthieu Robert-Ortis

Der französische Künstler Matthieu Robert-Ortis ist vom Perspektiv...

Modell tragen Fashion von Rolf Ekroth.

Mode

Rolf Ekroth, finnische Fashion zwischen Nostalgie und Zukunft

Bereits zum zweiten Mal zeigt Rolf Ekroth seine außergewöhnlichen ...

Cocoa Press 3D-Drucker druckt Schokoladenkreation

Innovation

3D-Drucker für Schokolade? Diese Brands lassen süße Träume wahrwerden

Schokolade in jeglicher Form und Farbe, wahre Kunstwerke zum Versp...

Alcohol Ink Art in Blau und Gold hängt an der Wand

DIY

DIY-Anleitung: Alcohol Ink Art

Abstrakte Bilder erobern nicht nur die Kunstszene, sondern auch di...

Tea Steam Facial: eine Teekanne, aus der Dampf aufsteigt.

Skincare

Tea Steam Facial, das Dampfbad fürs Gesicht

Tees schmecken nicht nur an kalten Tagen gut, sie sind auch wertvo...

LIVE IT UP (Disco Szene) in Falling in Love.

Gesellschaft

„Falling in Love“ Berlin, Designer Jean Paul Gaultier im Kristallrausch

Der Friedrichstadt-Palast strahlt, denn die neue Show "Falling in ...

Mode

project autark, zeitlose Mode, moderne Designs

Zeitlose, genderneutrale und minimalistische Mode, die nicht nur e...

Ein Schachspiel aus Bienenwachs von FAUM.

Design

Ein Schachspiel aus Bienenwachs, zum Dahinschmelzen schön

Wer sich das Schachspiel des australischen Labels FAUM zulegt, kan...

Frau grübelt.

Psychologie

Overthinking, 5 japanische Techniken gegen Gedankenspiralen

Grübeln, nachdenken und überlegen – sich zu lange den Kopf über ei...

Models tragen Jacke, Rock und Jacket von Plaid-à-Porter.

Mode

Plaid-à-Porter, High-Fashion aus Vintage Patchworkdecken

Die Berliner Designerin Estelle Adeline Trasoglu kreiert Statement...

Newsletter

Melde dich für unseren Newsletter an.

Folge uns