Organische Architektur kann noch weitaus mehr, als nur Gebäude und Landschaft harmonisch zu kombinieren … das zeigt Architektin Jeanne Gang.
Architektur ist die Beziehung zwischen Mensch und Natur
„Ich bin ein Relationship Builder“ – mit diesen Worten beginnt die amerikanische Architektin Jeanne Gang ihren Ted Talk. Was sie damit sagen will? Die meisten Menschen denken bei einem Architekten-Beruf an jemanden, der lediglich Gebäude gestaltet. Doch es steckt viel mehr im Entwerfen von Häusern – jedenfalls für Gang und ihr Team von Studio Gang, ein Architektur- und Designbüro, von ihr selbst ins Leben gerufen. Für sie stehen die Beziehung von Mensch und Natur im Vordergrund.
Die Natur ist Gangs Inspiration für ihre Architektur-Projekte
„Städte sind Orte, an denen Menschen für alle möglichen Arten des Austauschs zusammenkommen, aber heute sind unsere urbanen Lebensräume aus dem Gleichgewicht geraten“, erklärt die renommiere Architektin. Gang hat sich mit ihrer Architektur zur Aufgabe gemacht, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Wie? Indem sie Orte schafft, die sich dem Menschen, seiner Umgebung und der sozialen Interaktion annehmen.
Ihre Inspiration holt sie sich aus der Natur: „Ökologen schauen nicht nur auf die einzelnen Spezies an sich, sie betrachten die Beziehung zwischen Lebewesen und ihrer Umgebung.“ Sollte Architektur also als ein Synonym für Lebensraum angesehen werden? Schließlich versteht man darunter ein Biotop, das auf das Gleichgewicht der einzelnen Bestandteile angewiesen ist. Sicherlich ein wichtiger Aspekt für Studio Gang, im Zentrum steht für das Architekten-Team jedoch vor allem die Schaffung eines physischen Raums, der dabei helfen kann, stärkere Beziehungen zu bilden – sowohl für Menschen untereinander als auch in Bezug auf die Natur.
Vom Tower zum Award
Jeanne Gang hat schon einige bekannte Bauwerke geschaffen, welche sich dem Thema „soziale Beziehung“ widmen. So wurde unter ihrer Leitung zum Beispiel der Aqua Tower ins Leben gerufen. Ein 82-stöckiger Skyscraper in Chicago mit organisch geformten Balkonen, von denen sich die Bewohner:innen aus gegenseitig zuwinken und unterhalten können. Nicht für jede:n eine einladende Vorstellung, weshalb der Wohngigant auch für Alleinstehende und junge Berufstätige gedacht ist. Eine Zielgruppe, die oftmals Lust auf neue Bekanntschaften hat, und auf deren Bedürfnisse durch das Bauwerk eingegangen wird.
Für ihre Werke mit sozialem Impuls wie den Aqua Tower, der zum Zeitpunkt seiner Fertigstellung das höchste von einer Architektin entworfene Gebäude der Welt war, erhält Gang mehrfach Preise. Erst Ende letzten Jahres gewinnt sie den 2023 Charlotte Perriand Award, nachdem der ghanaisch-britische Architekt David Adjaye mit dem ersten Award dieser Art ein Jahr zuvor ausgezeichnet wurde.
Richard Gilder Center for Sciences, eine organische Architektur des Staunens
Die Idee, dass Hausfassaden einen funktionalen Zweck wie soziale Interaktion erfüllen können, ist durchaus spannend. So soll auch die organische Fassade ihres neuesten Projektes, dem Ausbau vom Richard Gilder Center, aus pinkem Milford-Granit, neugierig machen und zu einem Besuch einladen. Im Mai dieses Jahres wurde der Anbau des Museums eröffnet, vier der sieben Etagen inklusive Untergeschoss sind nun öffentlich zugänglich. Zum Design der organischen Architektur und deren Wirkung sagt Jeanne Gang: Das Haus „greift den Wunsch nach Erforschung und Entdeckung auf, der für die Wissenschaft so typisch ist und auch einen großen Teil des Menschseins ausmacht. Wenn man das Gilder Center betritt, verspürt man sofort ein Gefühl des Staunens. […] Das Gebäude lädt dich auf eine Reise zu einem tieferen Verständnis ein, weckt deine Neugier und hilft dir, die erstaunlichen Organismen und das Wissen darin zu finden.“ Die neue Architektur soll also die Besucher:innen zu dem Ursprungsgedanken eines Museums zurückführen, der Idee des Staunens.
Wie sie das schafft? Es beginnt mit der Idee, Menschen und Wissen auch architektonisch zusammenzubringen: 25 einzelne Häuser, die in den letzten zwei Jahrhunderten errichtet wurden, sind jetzt miteinander verbunden. In den 1870er Jahren entwerfen Calvert Vaux und Jacob Wrey Mould das damals noch kreuzförmigen Museums für Naturkunde. Mit den Jahren werden zwei Dutzend Gebäude in verschiedenen historischen Stilen dazu gebaut. Ihre individuelle Anordnung erschwert es jedoch den Besucher:innen, die richtige Ausstellung zu finden. Mit den Plänen von Studio Gang 2014 soll das Labyrinth entschlüsselt und durch die Vernetzung der einzelnen Bestandteile eine leitende Architektur geschaffen werden.
Das Spiel mit den Formen: Natur trifft Architektur
Fast zehn Jahre und einige Herausforderungen später ist die Renovierung des Naturkundemuseums abgeschlossen. Schon von außen zeigt der Neubau aus Spitzbeton mit Eingang im Westen, wie kunstvoll Architektur sein kann. Eine felsenartige, geschwungene Steinfassade, die in ihren organischen Konturen an geologischen Formationen sowie das sanfte Fließen von Flüssen erinnert. In ihnen sind abgerundete Fenster in unterschiedlichen Formen integriert, die auf abstrakte Weise Höhlenöffnungen gleichen. Diese bestehen aus einem speziellen Glas, das die Vögel im Gegensatz zu herkömmlichem Fenstern wahrnehmen können.
Nachdem man den Anbau des Museums betritt, gelangt man in eine Art gewaltige Schlucht, die sich skulptural entfaltet. Die moderne Interpretation einer Höhle, die alles andere als einengend und dunkel ist, sondern von Licht durchflutet wird und jede Menge Raum für Inspiration lässt.
Nicht nur die Architektur ist im Inneren außergewöhnlich, auch die Aufmachung der Ausstellungen unterscheiden sich von Standard-Museumsbesuchen. Im ersten Stock des Centers gibt es zum Beispiel ein Insektarium, in welchem zur Eröffnung übergroße Bienenmodelle hängen. Direkt ein Stockwerk darüber befindet sich das „Davis Family Butterfly Vivarium“, eine Dauerausstellung, in der Besuchende bis zu tausend frei fliegenden Schmetterlingen beobachten können. Ein interaktives 360-Grad-Erlebnis wartet im dritten Stockwerk: „Invisible Worlds“, eine Ausstellung der besonderen Art, welche die Netzwerke des Lebens auf der Erde in unterschiedlichen Maßstäben ergründet. So können Netzwerke gezeigt werden, die für das menschliche Auge ansonsten zu klein, zu schnell oder zu langsam sind.
Einflüsse der Natur zeigen sich zum Beispiel auch in der Bibliothek. Doch ist es nicht der Ausblick auf den Theodore Roosevelt Park, sondern die organische Säule in der Mitte des Raumes, die das Naturell widerspiegelt. Sie erinnert an den Stiel eines überdimensionalen Pilzes, welcher in der Decke mündet. Diese ist mithilfe von Lichtbändern und Eschenholzplatten so konstruiert, dass sie der Unterseiten-Struktur eines Pilzhutes ähnelt.
Jeanne Gang und ihr Team zeigen, dass organische Architektur mehr als einfach nur fasziniert: Sie kann Menschen einen Lebensraum für Beziehungen geben – ob nun untereinander oder mit der Natur.
Judith liebt das Leben mitten in der Metropole Köln. Ihr Gespür für spannende Storys führt sie regelmäßig zu außergewöhnlichen Themen mit aktuellem Zeitgeist. Schon seit ihrer Kindheit folgt sie ihrer Passion, dem Schreiben; seit zwei Jahren nun auch als Redakteurin. Besonders begeistern sie die Themen Psychologie, DIY und Yoga. Bereiche, über die sie als Online-Redakteurin schreibt und die sie gerne ihrer Freizeit ausübt. Ein Gespür für ästhetische Einrichtung besitzt sie bereits seit ihrem Studium im Bereich Design. Seither entdeckt sie immer wieder neue Design-Innovationen und einzigartige Architekturen, über die sie auf kronendach berichtet.