Die Bionik nutzt Mechanismen und Strukturen aus der Natur, um technische Probleme zu lösen. Auch die Architektur macht sich das Prinzip zu Nutze. Das Ergebnis sind Konstruktionen nach dem Vorbild der Biologie.
Die orangefarbenen und tiefblauen Blütenblätter der Strelitzie sind Thomas Speck sofort ins Auge gefallen, als der Professor vor einigen Jahren durch den botanischen Garten der Universität Freiburg spazierte. Die Pflanze kann bis zu zehn Meter hoch werden, am Ende ihres Stammes wachsen große, ledrige Blätter. Wegen ihres exotischen Aussehens wird die Strelitzie auch „Paradiesvogelblume“ genannt. Aber es waren nicht die Farben oder die Größe der Strelitzie, die Thomas in ihren Bann zogen. Es war die Art und Weise, mit der ihre Blütenblätter angeordnet sind: Sie wachsen in Paaren, je zwei Blütenblätter sind durch eine Pflanzenrippe getrennt. Beide rollen sich zur Rippe hin und bilden eine Art Schiffchen. Darin befinden sich die Pollen und der Nektar. Angelockt vom Duft des Nektars landen Vögel auf den Blütenblättern der Strelitzie. Unter der Last des Vogels biegt sich die Rippe nach unten. Dadurch klappen die beiden Blätter auf und legen den Nektar frei. Sobald der Vogel weiterzieht, springt die Rippe in ihre ursprüngliche Form zurück und die Blütenblätter klappen wieder zu. Thomas hat diese Mechanik als Vorlage genutzt, um einen Sonnenschutz für Fassaden zu bauen.
Architektur nach dem Prinzip von Blütenblättern
Thomas leitet die Plant Biomechanics Group und den Botanischen Garten der Universität Freiburg. Seine Entdeckung an den Blütenblättern der Paradiesvogelblume teilte er mit Bauingenieur Jan Knippers. Denn Jan und sein Team suchten nach Möglichkeiten, einen Sonnenschutz für Gebäude mit möglichst wenigen Bauteilen und Scharnieren zu konstruieren. „Herkömmliche Fassadenverschattungen gehen leicht kaputt“, sagt Thomas. „In der Technik war es einfacher, rechte Winkel und gerade, steife Teile zu entwickeln.“ Die Folgen sind hohe Wartungskosten und ein schneller Verschleiß der Teile.
Nach dem Vorbild der Strelitzie entwarfen die beiden deshalb den „Flectofin“. Dabei handelt es sich um einen Stab, an dem links und rechts je eine Lamelle angebracht ist. Biegt sich der Stab, klappen die Lamellen auseinander. Lässt der Druck nach, schließen sie sich.
Bereits bei der Weltausstellung 2012 in Südkorea präsentierten sie ihre Erfindung der Öffentlichkeit: Die komplette Außenfassade des Themenpavillons „One Ocean“ wurde mit dieser Fassadenverschattung versehen. Wie eine Welle schlängelt sich das Gebäude bis heute am Hafenbecken der Stadt Yesou entlang. Die weißen, beweglichen Lamellen von Thomas und Jan schmiegen sich wie Kiemen von außen an das Gebäude. Um die Lamellen zu schließen, wird hydraulischer Druck auf die Stäbe ausgeübt. Lässt der Druck auf die Stäbe nach, gelangt wieder Licht in die Räume. Ganz ohne Gelenke oder Schrauben können sich die Lamellen so öffnen und schließen und sich selbst an die gekrümmte Fassade des Pavillons anpassen.
Die Bionik nimmt die Natur als Vorbild
Bionik heißt das Prinzip, nach dem Thomas und Jan ihren Sonnenschutz entwickelt haben. Der Begriff Bionik setzt sich aus „Biologie“ und „Technik“ zusammen. Denn von Bionik spricht man, wenn Mechanismen und Phänomene aus der Natur auf die Technik übertragen werden. Das heißt, technische Probleme werden nach Vorbildern aus der Natur gelöst. Die Wissenschaft macht sich dabei zunutze, dass sich die Natur im Laufe der Evolution perfekt angepasst hat.
Ohne es zu merken, begegnen uns jeden Tag Beispiele aus der Bionik. So ist der Klettverschluss mit seinen elastischen Häkchen von der Klette abgeschaut. Oder die Bodenhaftung von Autoreifen der Oberfläche Katzenpfoten nachempfunden.
In der Architektur sorgt Bionik für kunstvolle Designs und für mehr Nachhaltigkeit. Denn wenn sich Architektinnen und Architekten die Natur zum Vorbild nehmen, sparen sie durch die smarten Konstruktionen meist Baumaterialien. Das trifft vor allem bei der Leichtbauweise zu. Hier ist maximale Gewicht- und Ressourceneinsparung das Ziel. Ein berühmtes Beispiel ist der Pariser Eiffelturm. Er wurde nach dem Vorbild des menschlichen Oberschenkelknochens entwickelt. Dieser muss mit geringem Materialaufwand hohen Belastungen standhalten. Viele Knochenbälkchen stabilisieren den Knochen genau dort, wo Kräfte auf ihn einwirken, zwischen den Balken sind Hohlräume. Nach diesem Prinzip sind auch die Stahlbalken des Eiffelturms angeordnet. „Wenn man den Eiffelturm einschmelzen würde, wäre der gerade mal ein paar Meter groß. Das ist also wirklich ein Ultra-Leichtbau-Gebäude“, sagt Thomas.
Von 400.000 bekannten Pflanzenarten hat Thomas inzwischen rund 20.000 unter dem Mikroskop angeschaut – immer auf der Suche nach neuen Mechanismen, die wir auf unser Leben übertragen können. „Es ist schon verrückt, viele mechanische Funktionen bei Pflanzen sind ganz einfach, fast schon trivial“, sagt er. „Aber man kommt von selbst nicht drauf.“
Bionik und bekannte Bauwerke
Trotz der Vorteile in Sachen Nachhaltigkeit gibt es derzeit in der Architektur noch keine bionischen Lösungen in Serienproduktion. Denn noch sind bionische Konzepte recht teuer und auch die Zulassungsbeschränkungen machen eine serielle Produktion schwierig. Dennoch zeigen vereinzelte Bauwerke schon heute, wie bionische Architektur in Zukunft aussehen kann. Hier sind zwei bekannte Beispiele:
Bionik Beispiel 1 – Olympiastadion München
Das 74.800 Quadratmeter große Dach des Olympiastadions in München besteht aus einer Stahlseilkonstruktion, die an bis zu 80 Meter hohen Pylonen aufgehängt ist. Die Stahlseile sind ineinander vernetzt und durch Knoten miteinander verbunden. Als Vorbild für das Konstrukt diente die Struktur von Spinnennetzen. Aus Quer- und Längsfäden spannen die Insekten ein Netz, das enorme Druck- und Zugkräfte aushalten kann. Im Fall des Münchener Olympiastadions konnte am Beispiel des Spinnennetzes eine große Fläche mit so wenig Material wie möglich abgedeckt werden.
Bionik Beispiel 2 –Helix-Brücke in Singapur
Die 280 Meter lange Fußgängerbrücke „The Helix“ befindet sich an der Marina Bay in Singapur und verbindet das Marina Centre mit Marina South. Ihr Name leitet sich von der Doppelhelix-Struktur unserer DNS ab. Denn angelehnt an deren Aufbau schlängelt sich auch die Brücke in Gestalt einer Doppel-Helix über das Wasser. Aufgrund der außergewöhnlichen Bauweise gewann die Brücke schon 2010, im Jahr ihrer Eröffnung, die Auszeichnung als „weltbestes Verkehrsgebäude“.
Bionik Beispiel 3 – Stuttgarter Flughafen
Das Dach des Terminal 1 am Stuttgarter Flughafen wird von 12 Bäumen aus Stahl getragen. Die Stützen sind nach dem Vorbild des Waldes entstanden. Wie bei richtigen Bäumen führen Äste aus dem Stahlstamm ab und verzweigen sich weiter bis sie das Dach berühren. So verteilt sich die Flächenlast des Flughafendachs gleichmäßig auf die einzelnen Baumstützen.
Bionik Beispiel 4 – Das Eastgate Center in Simbabwe
Das Eastgate Center, ein Einkaufs- und Bürozentrum in Simbabwe, ist von Termitenbauten inspiriert. Denn das Ziel des Architekten Mark Pierce war es, ein Gebäude zu entwickeln, das sich selbst kühlt. Termitenbauten besitzen unzählige kleine Löcher auf ihrer gesamten Oberfläche und können so atmen wie eine Lunge. Also hat er im Eastgate Centre ebenfalls viele kleine Luftschächte und Schornsteine verbauen lassen. Über die Schächte steigt die warme Außenluft nach oben und saugt die kalte Luft aus dem unteren Teil des Gebäudes nach – so sorgt dieses System für eine natürliche Kühlung des Gebäudes.
Bionik Beispiel 5 – Pavillon im Botanischen Garten London
Für die „Chelsea Flower Show“, eine jährliche Gartenschau in London, hat der Landschaftsplaner Marcus Barnett gemeinsam mit dem Londoner Architekturbüro NEX einen Pavillon entworfen, der der Struktur eines Blattes nachempfunden ist. Die Struktur haben sie mithilfe von mathematischen Algorithmen erzeugt, die das Wachstum von Pflanzen imitierten. 136 Holzstäbe bilden die Blattadern, die nachgeahmten Zellstrukturen sind aus recyceltem Plastik gebaut. Nach dem Ende der Gartenschau wurde der Pavillon dauerhaft im Botanischen Garten im Londoner Stadtteil Kew platziert.
Katrin hat in Berlin Publizistik studiert und schreibt seit drei Jahren als Redakteurin im Lifestyle-Bereich. Wenn sie nicht gerade die weite Welt bereist, übt Katrin Kopfstand auf ihrer Yogamatte, oder ist auf der Suche nach den neuesten Innovationen und Health-Trends. Deshalb schreibt sie bei kronendach für die Rubriken Travel, Mindfulness und Zeitgeist. Nach Feierabend findet man sie meistens mit einer Matcha Latte in der Hand durch die Straßen Hamburgs spazieren.