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Architektur

Baubiotonik – Konzepte aus der Natur für das Leben in der Stadt

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Stell dir vor, dein Haus klimatisiert sich von allein, erzeugt Energie, atmet dir gesundes Raumklima zu, sammelt Wasser für dich und klärt dein Abwasser. Klingt nach Science-Fiction? Science ja. Fiction nein. Denn: Solche Gebäude gibt es tatsächlich. Das ist keine Zauberei, sondern „Baubiotonik“.

Die Baubiotonik ist ein aufstrebendes, interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich zwischen Architektur, Biologie und Ingenieurswissenschaften bewegt. Anders als die Bionik versucht die neue Disziplin, die Synergien zwischen diesen Bereichen zu nutzen, um nachhaltigere und biokompatible Bauweisen mit einem verringerten CO2-Fußabdruck zu entwickeln. Dazu gehört auch die Integration von lebenden Organismen und biologischen Prinzipien in ein Bauwerk.

Denn: Die Natur macht es uns vor. Täglich und überall. In Gegenden, wo der Mensch nicht eingreift und die er auch nicht aus der Ferne verschmutzt, ist das Wasser sauber, denn die Natur kümmert sich um natürliche Klärung. Im Wald ist es im Sommer kühler als in der Umgebung, weil die Pflanzen Schatten spenden und Feuchtigkeit speichern.

Im Winter ist es dort wärmer, weil nicht aller Schnee bis nach unten kommt und die Bäume einen natürlichen Windschutz bilden. Das Unterholz bietet seinen Bewohnern Schutz, angemessene Temperatur und Energie. Und das Beste: All das reguliert und regeneriert sich ganz von selbst. Der Wald ist nur ein Beispiel, das wir besonders gut kennen. Aber auch an anderen Orten, an denen wir der Natur ihren Lauf lassen gilt: Sie macht es richtig, von ihr können wir lernen.

The Gherkin in London.
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The Gherkin in London ist ein Beispiel Baubiotonik.

Gardens by the Bay in Singapur.
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Spektakuläre Bauten wie die berühmten „Gardens by the Bay“ in Singapur gehören in die Baubiotonik.

Baubiotonik-Beispiel 1 – Council House 2, Melbourne: Frische durch Pflanzen

Das zehnstöckige Gebäude der Stadtverwaltung von Melbourne ist perfekt auf das lokale Klima abgestimmt. Dabei spart bzw. produziert das Gebäude nicht nur Energie durch cleveres Design, ein ausgeklügeltes Lüftungssystem wie bei einem Termitenbau und Solaranlagen für Strom und warmes Wasser, der Clou hier sind die Pflanzen: Es „arbeitet“ genau wie ein Wald. Horizontale und vertikale Bepflanzungen auf dem Dach und der ganzen Nordfassade (Norden ist in Australien die Sonnenseite) erwecken die ursprüngliche Umgebungsvegetation zum Leben. Die ganze grüne Dachfläche dient zum Auffangen von Regenwasser. Das aufgefangene Regenwasser wird zusammen mit dem aufbereiteten Wasser aus der Toilettenspülung für Pflanzenbewässerung, Springbrunnen und die gebäudeeigenen Kühltürme verwendet.
In den Bürobereichen und auf den Sommer- und Winterterrassen des „CH2“ gibt es reichhaltige Innenbepflanzungen. Diese Pflanzen verbessern Raumklima, Ambiente und Wohlbefinden, während die Außenpflanzen die Gebäudetemperatur, regulieren.
Die Herausforderung im CH2: Das aufgefangene/aufbereitete Wasser zu den Pflanzen bringen. Die Lösung: ein Selbstbewässerungssystem in Pflanzkästen aus recyceltem Kunststoff. Dieses wassersparende System bietet einen für die Pflanzen idealen Nass-Trocken-Zyklus. Es besteht aus einer Bewässerungsvorrichtung und einem Bodenzusatz in jedem Pflanzkasten. Der Bodenzusatz speichert Wasser, bis der Boden es braucht. Der Pflanzkasten ist an ein gebäudeumspannendes System angeschlossen, das sich mit gesammeltem oder recyceltem Wasser füllt, wenn die Kristalle trocknen. Ein Teil des über den Dachgarten gesammelten Wassers geht an ein Kühlturmsystem, neben den Außenpflanzen die zweite energieeffiziente Komponente des Gebäude-Klimasystems.

 

Baubiotonik-Beispiel 2 – BIQ, Hamburg: Lebendige Fassade produziert Energie

Auch in Deutschland gibt es schon Gebäude, die auf Baubiotonik beruhen. Das BIQ in Hamburg ist eines davon. Das fünfstöckige Wohnhaus hat an der Sonnenseite eine „zweite Haut“ aus Glas, in der Mikroalgen in Wasser leben. Sie werden über den Wasserkreislauf der Fassade mit CO2 und Nährstoffen versorgt und betreiben Fotosynthese. Die Algen wachsen und wenn es genug Algenmasse gibt, kann man sie „ernten“, um daraus Biogas für die Energieerzeugung zu gewinnen. Algen produzieren fünfmal mehr Biomasse als andere Pflanzen und enthalten darüber hinaus energiereiche Öle. Wenn es mehr Algen zu ernten gibt, als Biogas benötigt wird, können sie als wertvolles Nahrungsergänzungsmittel verkauft werden.

Und das ist noch nicht alles: Die Glasfassade des BIQ wirkt als Isolierschicht gegen Schall, Kälte und Wärme. Sie selbst wärmt sich außerdem auf wie eine Solartherme. Ein Teil dieser Wärme wärmt den Hausbewohnern das Wasser, der Rest geht über Erdwärmesonden in mit Sole gefüllte Bohrlöcher unter dem Gebäude. Die Sole fungiert als Wärmespeicher, bis die Wärme oben gebraucht wird.

Baubiotonik-Beispiel 3 – Pasona Group Office: Eine Farm mitten in Tokio

Mitten in Tokio, zwischen Stahl, Glas und Leuchtschildern bietet das Bürogebäude des Personaldienstleisters Pasona Group einen Anblick zum Staunen: Es ist voll begrünt, und zwar außen und innen. Berater:innen in Hemd oder Bluse arbeiten hier … auf einer Farm. Die doppelschalige grüne Fassade des neunstöckigen Gebäudes ist natürlich hübsch anzusehen. Und sie reguliert die Temperatur im Inneren. Aber das ist hier „nur ein netter Nebeneffekt“, denn: In den vertikalen Gärten der Pasona Group Office wachsen Früchte. Und auch im Inneren geht es zu wie auf dem Feld: In Hochbeeten im Foyer wird Reis angebaut. Über den Meetingecken spenden Tomatenranken und andere Nutzpflanzen Schatten, frische Luft und ein angenehmes Ambiente, während die Früchte über den Köpfen der Konferierenden baumeln. Statt Wänden trennen Pflanzen die einzelnen Abteilungen.

Die Angestellten sehen so ihr Essen täglich bei der Arbeit wachsen. Auf 43.000 Quadratmetern produziert die Firma hier neben Beratungsleistung mehr als 200 Sorten Obst, Gemüse und Reis. Jede Pflanze steht an dem für sie günstigsten Ort, es gibt hydroponische Anbauflächen und solche mit Erde. Die Ernte landet sofort in der Kantine. Das Gebäude ist ein riesiges urbanes Farm-to-Table Experiment komplett ohne Transportkilometer. Für die automatische Bewässerung der Pflanzen sorgt eine intelligente Klimasteuerung, die Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Luftzug überwacht, um den Bedarf von Menschen und Pflanze während der Bürozeiten auszugleichen. Nach Feierabend sind diese Systeme ausschließlich auf die Pflanzen zugeschnitten, um einen besseren Ertrag zu erzielen.

Vera Neeten
Autorin Vera Neeten

Vera schreibt für uns remote vom Tor zu Patagonien/Chile aus. Dort ist sie als echter Outdoor-Fan genau richtig: Ob im Urwald, auf Lavafeldern oder am Pazifikstrand, Vera hält immer Ausschau nach kleinen Naturschätzen, erstaunlichen Details und kreativen Ideen. Kein Wunder, dass sie bei uns am liebsten über Travel, Nachhaltigkeit und spannende Menschen schreibt.

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